In den Spielzeiten zwischen den Jahren 2005 und 2009 hatte ich als Heidelberger Operndirektor die Programmierung meiner Sparte zur Aufgabe, und auch für die folgende Spielzeit 2009/10 war das Programm noch zu entwerfen – gemeinsam mit dem Intendanten Peter Spuhler und dem Generalmusikdirektor Cornelius Meister.
1. Denn die erste Voraussetzung für unseren Erfolg war die Arbeit als Team. So unterschiedlich unsere Standpunkte manchmal auch waren, Entscheidungen wurden nur gemeinsam getroffen, sobald eine Einigung gefunden war. Egoistische Machtkämpfe auf der Führungsebene zehren an nicht wenigen Häusern die kreative Energie auf – die dann der Kunst fehlt.
2. Klare Programmlinien: eine Mozart-Oper mit Cornelius Meister, die Zweitproduktion einer soeben uraufgeführten Oper, eine Kirchenoper von Benjamin Britten, nach Möglichkeit eine Wiederentdeckung, eine Barockoper, Repertoirestücke nach den Erfordernissen des Sänger-Ensembles.
3. Ein deutliches Signal zum Anfang: Nach dem populären „Don Griovanni“ in einer ungewöhnlichen Regiekonzeption kam als zweites sogleich eine neue Oper. Dadurch wurde in der Stadt wahrgenommen, dass in diesem Haus jetzt mit neuem Ernst große Kunst gemacht wird.
4. Keine Produktion, die nicht ihre Notwendigkeit nachweist: Der Zuschauer muss den Theaterabend mit dem Gefühl verlassen, etwas Besonderes erlebt zu haben, das es nirgendwo anders gibt. Sowohl das Stück muss seine Triftigkeit beweisen, als auch die Regie den Rahmen für das richtige Hören liefern, bzw. mit der musikalischen Dramaturgie in Einklang stehen.
5. Ein junges, hochqualifiziertes Sängerensemble sorgt für Zugkraft auf der Bühne. Wo, wenn nicht an den kleineren Theatern soll der Nachwuchs seinen Beruf lernen? Wo, wenn nicht von den kleineren Theatern sollen die großen Häuser ihre Stars beziehen? Unsere Sänger waren nicht erfolglos: Larissa Krokhina ging nach Weimar, Jana Kurucová an die Deutsche Oper Berlin, Sebastian Geyer an die Oper Frankfurt.
6. Für die Qualitätsverbesserung ist es unerlässlich, dass die Ensemblemitglieder Liederabende singen. Liedgesang nützt der Gesangstechnik. Und Liederabende muss man lernen. Wir geben den jungen Sängern ebenso die Chance dazu wie den erfahrenen.
7. Chancen auch für junge Regieteams. Bei uns realisierten ihre erste Opernregie am Stadttheater: Sandra Leupold, Christian Spuck, Benedikt von Peter, Michael von zur Mühlen, Hendrik Müller, Daniel Cremer, Tobias Kratzer, Jim Lucassen; es debütierten die Bühnenbildner Susanne Münzner, Sebastian Hannak, Kathrin Wittig, Ben Baur, Jeroen van Eck. Die Regiehandschriften wurden ergänzt durch erfahrene Meister: Reinhild Hoffmann, Arila Siegert, Gottfried Pilz, Bernd Mottl. Dass darunter Choreographen sind, ist kein Zufall.
2005/06
Mozart Don Giovanni 1.10.05
Staud Berenice 5.11.05
Britten Saint Nicolas 6.12.06
Romberg The Student Prince 26.12.05 (Theater) / 24.6.06 (Schlossfestspiele)
Lortzing Der Wildschütz 18.3.06
Catán Florencia en el Amazonas 29.4.06
Massenet Werther 10.6.06
2006/07
Zender Chief Joseph 29.9.06
Puccini Madama Butterfly 26.10.06
Vivaldi Motezuma 8.12.06
Lincke Frau Luna 17.2.07
Mozart Le nozze di Figaro 31.3.07
Britten The Prodigal Son 26.4.07
Rossini Il barbiere di Siviglia 23.6.07
2007/08
Puccini La Bohème 20.10.07
Moebius Pinienkerne wachsen nicht in Tüten (UA, Kinderoper) 25.11.07
Vivaldi L’Olimpiade 7.12.07
Adams A Flowering Tree 9.2.08
Mozart Idomeneo 28.3.08
Britten Curlew River 19.4.08
Tschaikowsky Eugen Onegin 30.5.08
2008/09
Mozart Titus 3.10.08
Henze Phaedra 1.11.09
Vivalsi Tito Manlio 14.12.08
Leoncavallo/Granados I Pagliacci/Goyescas 21.2.09
Britten The Burning Fiery Furnace 13.3.09
Martinů Les trois souhaites 26.4.09
Donizetti L’elisir d’amore 26.6.09
2009/10
Mozart Die Zauberflöte 7.10.09
Verdi Rigoletto 7.11.09
Porsile Spartaco 6.12.09
Miki Ai-en 20.2.10
Strauss Salome 10.4.10
Britten Noye’s Fludde 12.5.10
Heidelberger Spielplanlinien
Saint Nicolas (Der Heilige Nikolaus) engl.
in der Friedenskirche in Handschuhsheim 2005/06
Michael Klubertanz - Dirigent
Solvejg Franke – Regie
Klaus Teepe - Bühne
The Prodigal Son (Der verlorene Sohn) engl.
in St. Bonifatius in der Weststadt 2006/07
Michael Klubertanz - Dirigent
Solvejg Franke – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Frank Bloching - Kostüme
Curlew River (Am Möwenfluss) engl.
in der evang. Petruskirche in Kirchheim 2007/08
Dietger Holm - Dirigent
Solvejg Franke – Regie
Anja Koch – Bühne und Kostüme
The Burning Fiery Furnace (Die Jünglinge im Feuerofen) engl.
in der Johanneskirche in Neuenheim 2008/09
Joana Mallwitz - Dirigentin
Tobias Heyder – Regie
Didi Müller – Bühne und Kostüme
Noye’s Flodde (Noahs Flut) engl.
in St. Albert in Bergheim 2009/10
Dietger Holm – Dirigent
Elmar Supp – Regie
Stephanie Karl – Bühne
Sabrina Leichle - Kostüme
ausgezeichnet mit dem Götz-Friedrich-Studio-Preis für Opernregie
Menschen kommen ins Theater, um dort gemeinsam etwas zu erleben und sich auszutauschen. Es gibt aber auch viele Menschen, die nicht ins Theater kommen. Warum sollte das Theater nicht zu ihnen kommen? Das Heidelberger Theater liegt in der Altstadt, es lag also nahe, mit Projekten in die verschiedenen Stadtteile zu gehen und nach ungewöhnlichen Aufführungsorten zu suchen, die auch für die traditionellen Theaterbesucher attraktiv sind. Genau für diesen Zweck hatte der englische Komponist Benjamin Britten eine Reihe von Kirchenopern geschrieben. Für ihn war es immer sehr wichtig, dass seine Musik auch der Gemeinschaft nützlich war – die er durchaus nicht unkritisch sah. Er wollte unter den Menschen leben, für die er komponierte, und verstand seine Musik als ein Mittel der Kommunikation.
Deshalb schrieb er auch Stücke für die Aufführung in Kirchen, die es manchmal sogar Laienmusikern erlauben, mitzumachen. Was lag näher, als mit diesen Stücken in verschiedene Kirchen zu gehen und ihre wunderschöne Musik zu spielen, die in Deutschland kaum bekannt ist? Die Pfarrer, Kantoren und Gemeinden waren von der Idee leicht zu begeistern – sie konnten ihren Gemeinden ein außergewöhnliches Ereignis bieten, das den Kirchenraum in den Ort eines Mysteriums verwandelt. Szenisch wurde die Kirchenoper zu Spielfeld der Assistenten: Ein engagierter Regieassistent will nicht nur bei anderen Regisseuren lernen, sondern auch sich selbst in der Praxis erproben. Die Kirchenoper bot den Regieteams in den unterschiedlichen Kirchenräumenen ungewöhnliche Herausforderungen, die in relativ kurzer Probenzeit gemeistert werden mussten. Solvejg Franke, Tobias Heyder und Elmar Supp fanden dafür überzeugende Lösungen.
Das erste dieser Werke entstand noch als Kirchenkantate über den Nikolaus. Es liegt nahe, dieses Werk auch halbszenisch aufzuführen, und der 6. Dezember war der ideale Premierentag. Die Kantorei der Friedenskirche in Handschuhsheim studierte die Chöre ein, und bei zwei Chorälen durfte sogar das Publikum mitsingen. Kantor Michael Braatz lud das Publikum vor der Vorstellung zu einer kurzen Einsingprobe ein, damit das dann während der Aufführung auch richtig klang und Spaß machte.
Bei einem Japan-Besuch begeisterte sich Britten so über das Noh-Theater, dass er ein japanisches Stück an die christliche Tradition anglich und damit seine erste „Kirchenparabel“ schuf. Das Stück „Curlew River“ erzählt von einer Frau, die den Verstand verlor, als man ihren kleinen Jungen entführte, und die auf ihrer Irrfahrt sein Grabmal findet. Dort spricht der tote Junge in einer Vision zu ihr, wodurch sie aus Gnade zur Vernunft kommt. Die Musik ist dank ihres rituellen Charakters und der leicht asiatischen Färbung außerordentlich faszinierend, und in der kleinen Kirchheimer Petruskirche gelang eine sehr berührende Aufführung. Ein Teil der Ausstattung blieb sogar in der Kirche als Geschenk des Theaters zurück. Auch die Parabeln „Der verlorene Sohn“ in St. Bonifaz in der Weststadt und „Die Jünglinge im Feuerofen“ in der Neuenheimer Johanneskirche stehen in dieser Reihe und wurden für das Publikum zum eindrucksvollen Erlebnis.
Das Stück „Noahs Flut“ schrieb Britten als Oper für Kinder zum Mitmachen – nichts ist ja wichtiger, als dass Kinder selbst zum Musizieren animiert werden und dadurch ihre Persönlichkeit entdecken und entwickeln können. Noah und seine Frau werden von Opernsängern verkörpert, aber ihre Kinder und deren Freunde können auch von jungen Darstellern gesungen werden. Dazu kommt ein großer Kinderchor und sogar ein großes Kinderorchester, das das Profiorchester ergänzt. Schon der Einzug dieser über hundert mitwirkenden Kinder, die zum Teil selbst hergestellte Tiermasken trugen, wurde in St. Albert zum bewegenden Ereignis. Und Regisseur Elmar Supp bekam dafür den Studiopreis des renommierten Götz-Friedrich-Preises für junge Opernregisseure.
Don Giovanni ital. 2005/06
Sandra Leupold – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Julia Burde - Kostüme
Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro) ital. 2006/07
Aron Stiehl – Regie
Jürgen Kirner – Bühne und Kostüme
Viola Schütze – Kostüme
Francisco Sanchez - Choreographie
Idomeneo ital. 2007/08
Arila Siegert – Regie
Hans Dieter Schaal – Bühne
Marie-Luise Strandt – Kostüme
Titus ital. 2008/09
Christian Sedelmayer – Regie und Bühne
Bettina Schanz-von Koch - Kostüme
Die Zauberflöte dt. 2009/10
Tobias Kratzer – Regie
Rainer Sellmaier – Bühne und Kostüme
Berenice (2004) dt.2005/06
Johannes Maria Staud
Noam Zur – Dirigent
Christian Spuck – Regie
Emma Ryott – Bühne und Kostüme
Chief Joseph (2005) engl. 2006/07
Hans Zender
Cornelius Meister – Dirigent
Benedikt von Peter – Regie
Susanne Münzner – Bühne
Katrin Wittig – Kostüme
Kristin Shaw Minges - Choreographie
A Flowering Tree (Ein blühender Baum, 2006) engl. 2007/08
John Adams
Dietger Holm – Dirigent
David Hermann – Regie
Christof Hetzer – Bühne und Kostüme
Phaedra (2007) dt. 2008/09
Hans Werner Henze
Dietger Holm - Dirigent
Daniel Cremer – Regie
Ben Baur – Bühne
Amélie Sator – Kostüme
Ai-en (2006) japan. 2009/10
Minoru Miki
Dietgar Holm – Dirigent
Nelly Danker – Regie
Andreas Auerbach – Bühne und Kostüme
Für Komponisten ist es nicht so schwer, eine Uraufführung für ein neues Werk zu bekommen. Jedes Theater schmückt sich gerne damit, neue Stücke aufzuführen und damit etwas für die Gegenwartskunst zu tun. Doch die meisten dieser Stücke verschwinden danach auf alle Ewigkeit in der Versenkung – das war immer schon so, seit es Theater gibt. Ein Komponist muss Stück um Stück schreiben und kommt doch auf keinen grünen Zweig, weil er von den alten nicht leben kann. Entscheidend ist deshalb, ob es eine zweite Aufführung gibt, die das neue Stück für das Repertoire gewinnt. Erst dann ist wirklich etwas für die Gegenwartskunst getan. So lag es nahe, eine eigene Spielplanlinie dafür einzurichten, neue Stücke nachzuspielen, sich in jeder Saison nach den interessantesten neuen Opern umzusehen und sie dann in Heidelberg zu präsentieren – so weit die Möglichkeiten unseres Theaters dies erlaubt.
Und es gibt noch einen zweiten Grund, neue Stücke nachzuspielen. Bei einer Uraufführung ist oft die Tinte noch nicht trocken, mit der die Noten geschrieben worden sind. Das mag zu Mozarts Zeiten kein Problem gewesen sein, als jeder Sänger, Musiker und Regisseur mit den Konventionen der Zeit vertraut war. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts sind alle Übereinkünfte zerfallen, die vorher im Theater und in der Musik galten. Oft kennt der Regisseur den musikalischen Charakter der neuen Oper noch gar nicht, die er zur Uraufführung bringen soll. Er hat zwar den Text in der Hand, doch viel entscheidender ist die musikalische Dramaturgie einer Oper. Wer sich nur nach dem Libretto richtet, kann die Spannungsbögen eines Musikdramas völlig verpassen. Ein Regisseur kann auch ganz und gar daneben liegen, etwa wenn er nicht erkennt, dass es sich um ein statisches Drama handelt, für das eine dynamische Regie nicht passt – Aktionismus auf der Bühne kann dann verhindern, dass die Zuschauer die Musik angemessen wahrnehmen können.
Die zweite Aufführung ist also auch die Chance, eine Oper einer neuen Überprüfung zu unterziehen, sie von einer anderen Seite zu beleuchten und vielleicht sogar ihrem Wesen näher zu kommen. Man hat ja die Inszenierung der Uraufführung schon gesehen und ihre Mängel erkannt. Daraus kann man lernen und eine eigene Sichtweise des Stücks entwickeln. Auch der Komponist erkennt oft erst bei der zweiten Aufführung, was er da eigentlich geschaffen hat.
Für das Heidelberger Publikum bot diese Serie einen faszinierenden Überblick über das aktuelle Opernschaffen. „Berenice“ von dem jungen österreichischen Komponisten Johannes Maria Staud stand neben „Chief Joseph“ des Altmeisters Hans Zender, das an der Berliner Staatsoper uraufgeführt worden war. Am gleichen Ort stießen wir auch auf Henzes frisches Alterswerk „Phaedra“, das in der Interpretation durch ein blutjunges Team ein beeindruckendes neues Leben erhielt. Zugleich war es uns wichtig, über den Tellerrand zu blicken und zu zeigen, was außerhalb Europas passiert. „Florencia en el Amazonas“ von dem mexikanischen Komponisten Daniel Catán begeisterte das Publikum und brachte Menschen ins Haus, die sonst nicht in die Oper gehen. Mit „Ein blühender Baum“ präsentierten wir ein Werk des wichtigsten amerikanischen Komponisten unserer Zeit, John Adams, der aus der genuin amerikanischen Musikrichtung des Minimalismus kommt. Und selbst in Asien lebt die Oper: Als Minoru Mikis „Ai-en“ in Tokio uraufgeführt wurde, erwies sich sie als ein Meisterwerk der großen Oper. Eine spannende Geschichte um eine geheime Melodie und ein getrenntes Paar von Zwillingsschwestern verband fernöstliche Atmosphäre mit großem Gefühl und japanische Instrumentalklänge mit westlichem Orchestersound. Die Sänger und der Chor meisterten das Werk sogar in der japanischen Originalsprache. Das Originalsprache kein Dogma sein muss, zeigte sich bei der erzählenden, eher statischen Oper von John Adams, die in deutscher Übertragung gesungen wurde. Jedes Werk stellt seine eigenen Forderungen an die Interpreten. Auch das war eine interessante Lehre aus der Reihe der Zweitaufführungen.
Motezuma (2006/07, ital.)
Antonio Vivaldi, ergänzt von Thomas Leininger
Michael Form – Dirigent
Martín Acosta – Regie
Humberto Spíndola – Bühne und Kostüme
L’Olimpiade (Die Olympiade, 2007/08, ital.)
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent
Werner Pichler – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Frank Bloching – Kostüme
Tito Manlio (2008/09, ital.)
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent
Hendrik Müller – Regie
Claudia Doderer – Bühne und Kostüme
Spartaco (2009/10, ital.)
Giuseppe Porsile
Michael Form – Dirigent
Michael von zur Mühlen – Regie
Ben Baur – Bühne und Kostüme
Bajazet (2010/11, ital.)
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent
Daniel Pfluger – Regie
Flurin Madsen – Bühne
Janine Wertmann - Kostüme
Die Barockmusik hat sich seit ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert stürmisch aus den Zirkeln der Spezialisten und der Kennerkreise herausentwickelt und interessiert heute ein breites Publikum, das durchaus auch selbst schon Kennerschaft entwickelt hat. Dass die Musik des Barock uns heute wieder näher steht, ist ein Ausdruck des Endes des bürgerlichen Zeitalters mit seinem dynamischen Fortschrittsbewusstsein. Die Musik unserer Zeit hat sich von den Formen des 19. Jahrhunderts inzwischen so weit entfernt wie dieses vom Barockzeitalter entfernt war.
Der Wunsch, die Aufführung von Barockopern zu einem regelmäßigen Bestandteil des Heidelberger Opernrepertoires zu machen, traf sich mit der Anfrage der Schwetzinger Schlossverwaltung, ob das Heidelberger Theater nicht im Winter etwas im Rokokotheater veranstalten könne, da es sonst in dieser Zeit kaum bespielt würde. Doch wie sollte das Orchester eines Stadtteaters mit seinen modernen Instrumenten Barock spielen? Schließlich erwartet das Publikum heute einen Standard von historisch informiertem Spiel, hinter den man nicht zurückfallen darf. Und auch die Sänger von heute haben selten die Kenntnisse der barocken Verzierungskunst und Phrasierungsweisen, die aus einem Barockopernabend erst ein mitreißendes Gesamterlebnis machen.
Es war also durchaus eine Entscheidung mit Risiko, als wir den jungen Barockspezialisten Michael Form baten, unser Reiseleiter durch dieses Abenteuer zu sein. Michael Form hatte sich als Virtuose auf der Blockflöte international einen Namen gemacht und vor einiger Zeit begonnen, von der Leitung kleinerer Ensembles auch zum Dirigieren des Orchesters weiterzugehen. Er hatte Alte Musik und Barock nicht nur praktiziert, sondern auch theoretisch gründlich studiert. So konnte er Musiker und Sänger von Grund auf vorbereiten. Am Beginn der Probenphase stand immer ein Workshop mit einer Spezialistin für die Streicher des Orchesters, in der das historisch informierte Spielen trainiert wurde. Das Philharmonische Orchester schaffte Barockbögen an, später auch Natur-Hörner und Trompeten. Der Einstieg verlief nicht konfliktfrei, doch von Jahr zu Jahr waren die Fortschritte deutlich zu hören, bis das Orchester beinahe klang wie ein Spezialistenensemble.
Da die Musiker ja gleichzeitig das Standardrepertoire spielt und dafür nicht jeden Tag die Instrumente wechseln bzw. umstimmen kann, war rasch klar, dass wir Opern spielen würden, deren Originalstimmung mit der heutigen ungefähr übereinstimmte. Im barocken Venedig war die Stimmung 440 Hertz, deshalb lag die Wahl von Opern Antonio Vivaldis nahe, die noch zu entdecken waren. Besonders reizvoll erschien uns der kürzlich wiedergefundene „Motezuma“, der durch Carpentiers Roman „Concierto barroco“ berühmt war. Dass ein Drittel der Partitur fehlte, hielt uns nicht davon ab, das Werk komplett zu spielen: Der junge Komponist Thomas Leininger vervollständigte es auf so verblüffende wie befriedigende Weise im Stil Vivaldis. Dass das Regieteam aus Mexiko kam, machte die Aufführung zu einem Ereignis, das die Zuschauer lang nachwirkend verzauberte.
Es folgten von Antonio Vivaldi „L’olimpiade“ (Die Olympiade) mit ihrer wahnwitzigen Handlung bei den antiken Olympischen Spielen, „Tito Manlio“ mit einer Geschichte und mit Figuren, die später bei dem auch von Mozart vertonten „Titus“ wieder durchscheinen, und „Bajazet“, in dem der türkische Sultan für die westliche Kultur steht, die durch die barbarischen Tartaren gefährdet wird. Junge Regisseure sorgten dafür, dass diese Aufführungen immer unterschiedlich spannend gerieten. Besonders umstritten war Giuseppe Porsiles „Spartaco“, unser einziger Seitensprung von Vivaldi. Bei einem Thema wie Spartakus klafft unsere heutige Sichtweise von der des Barock natürlich besonders weit auseinander. Aber ein Abenteuer sollte er ja sein, unser Ausflug in eine fremde Epoche, die uns so seltsam vertraut vorkommt.
Florencia en el Amazonas span. 2005/06
Daniel Catán
Noam Zur - Dirigent
Michael Beyer - Regie
Hans Richter – Bühne und Kostüme
Goyescas / I Pagliacci span./ital. 2008/09
Enrique Granados / Ruggero Leoncavallo
Cornelius Meister – Dirigent
Aron Stiehl – Regie
Jürgen Kirner – Bühne
Viola Schütze – Kostüme
Francisco Sanchez - Choreographie
Drei Wünsche dt. 2008/09
Bohuslav Martinu
Dietger Holm – Dirigent
Holger Müller-Brandes – Regie
Chris Kondek – Video
Chris Kondek und Anja Koch – Bühne
Silke Schneider - Kostüme
Salome dt. 2009/10
Richard Strauss
Cornelius Meister – Dirigent
Aurelia Eggers – Regie
Stephan Mannteuffel – Bühne
Veronika Lindner - Kostüme
Der Wildschütz dt. 2005/06
Albert Lortzing
Cornelius Meister – Dirigent
Freo Majer - Regie
Bühne: Bistro Schneider’s aus „Verbotene Liebe“
Silke Rudolph - Kostüme
Werther frz. 2005/06
Jules Massenet
Cornelius Meister – Dirigent
Gottfried Pilz – Regie, Bühne und Kostüme
Madama Butterfly ital. 2006/07
Giacomo Puccini
Cornelius Meister – Dirigent
Reinhild Hoffmann – Regie
Susanne Böing – Bühne und Kostüme
La Bohème ital. 2007/08
Giacomo Puccini
Cornelius Meister – Dirigent
Michael von zur Mühlen – Regie
Sebastian Hannak – Bühne und Kostüme
Eugen Onegin russ. 2007/08
Peter Tschaikowsky
Dietger Holm – Dirigent
Benedikt von Peter – Regie
Katrin Wittig – Bühne
Geraldine Arnold - Kostüme
(Götz-Friedrich-Preis für Opernregie)
Rigoletto ital. 2009/10
Giuseppe Verdi
Cornelius Meister - Dirigent
Jim Lucassen – Regie
Jeroen van Eck – Bühne und Kostüme
(Sonderpreis des Ring Award 2008)
The Student Prince (Der Studentenprinz, 2005/06)
Sigmund Romberg
Michael Klubertanz – Dirigent
Heinz Kreidl – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Marette Oppenberg – Kostüme
Frau Luna 2006/07
Paul Lincke
Noam Zur – Dirigent
Bernd Mottl – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Frank Bloching – Kostüme
Sabrina Stein – Choreographie
Pinienkerne wachsen nicht in Tüten (Uraufführung 2007/08)
Mark Moebius
Joana Mallwitz - Dirigentin
Annette Büschelberger – Regie
Susanne Cholet – Bühne und Kostüme
Figaro für Kinder 2008/09
nach Mozart (Dauer: eine Stunde)
Sovejg Franke – Regie nach der Inszenierung von Aron Stiehl
im Bühnenbild von Jürgen Kirner
The Student Prince (Der Studentenprinz)
2006, 2007, 2008, 2009, 2010
Michael Klubertanz – Dirigent
Heinz Kreidl – Regie
Klaus Teepe – Bühne
Marette Oppenheim - Kostüme
Il barbiere di Siviglia (Der Barbier von Sevilla)
2007, 2008
Noam Zur – Dirigent
Michael Beyer – Regie
NN – Bühne und Kostüme
L’elisir d’amore (Der Liebestrank)
2009, 2010
Dietger Holm – Dirigent
Joan Antoni Rechi – Regie
Anton Flores – Bühne
Moritz Junge - Kostüme
2005/06
1. Liederabend Winfrid Mikus, Michael Klubertanz,: Lieder von Strauss, Janácek, Tagebuch eines Verschollenen
2. Liederabend Wilfried Staber, Timothy Schwarz: Loewe-Balladen, Mussorgsky, Lieder und Tänze des Todes
3. Liederabend Maraile Lichdi, Annette Fischer-Lichdi: Brahms & Clara Schumann, Reimann, Strauss
Schlossfestspiele 2006
Concierto barroco: Alexander Schneider, Michael Form, Dirk Börner
Liederabend Eleonore Marguerre, Cornelius Meister
2006/07
1. Liederabend Carolyn Frank, T. Schwarz: Debussy, Pizzetti, Brahms, Copland
2. Liederabend Sebastian Geyer, Markus Bellheim: Winterreise
3. Liederabend S. Schwarz, Urrutia, Meister: Wolf, Italienisches Liederbuch
4. Liederabend Aaron Judisch, T. Schwarz: Vaughn Williams, Mahler, Korngold, Eisler, Kern
5. Liederabend Larissa Krokhina, T. Schwarz: Russische Romanzen
6. Liederabend Vielstimmig: Krokhina, Kurucová, Lichdi, S. Schwarz, Judisch mit Ossian Quartett und Sascha Stinner, Klarinette
Schlossfestspiele 2007
Liederabend Ruth Ziesak, mit Gerold Huber, Klavier
Alexander Schneider: Geistliche Lieder des Barock, mit Stefan Maass, Gitarre
Gesang der Nachtigall (Lautten Compagney Berlin)
2007/08
1. Liederabend Jana Kurucová, Joana Mallwitz: Dvorák, Brahms, Schönberg, Wagner und Strauss
2. Liederabend Winfrid Mikus, Klubertanz: Die schöne Müllerin
3. Liederabend Silke Schwarz, Mallwitz: Schumann, Eichendorff und opus 40, Grieg opus 48
4. Liederabend Sebastian Geyer, Meister: Winterreise
5. Liederabend Maraile Lichdi, Fischer-Lichdi: Lieder nach Texten schwäbischer Dichter
6. Liederabend Sebastian Geyer: Schumann, Beethoven, Strauss
7. Liederabend Gabriel Urrutia Benet, T. Schwarz: Wolf, Mörike-Lieder
8. Liederabend Emilio Pons, Schwarz: Lieder aus Spanien und Lateinamerika
Schlossfestspiele 2008
Lied & Lyrik I: Achmatowa! – Ortrun Wenkel, Konstantin Arro
Lied & Lyrik II: Hesse! – Mechthild Bach
Lied & Lyrik III: Barock! – Alexander Schneider, Ludger Rémy
2008/09
1. Liederabend Gabriel Urrutia Benet, T. Schwarz: Spanische Zarzuelas
2. Liederabend Hubert Wild, Olav Kröger: Liebeslieder von Beethoven, Schubert, Schumann und Strauss
3. Liederabend Emilio Pons, T. Schwarz: Liebesfreud und Leid
4. Liederabend Falko Hönisch: Schubert und Schumann
5. Liederabend Sebastian Geyer, Bellheim: Winterreise
6. Liederabend Silke Schwarz, Mallwitz: Goethe-Lieder von Schubert, Schumann, Wolf
7. Liederabend Carolyn Frank, T. Schwarz: Frauenliebe und Leben, Broadway-Klassiker
Schlossfestspiele 2009
René Roseburg: Luna y Sol
Olivia Vermeulen: I Love And I Must (Lautten Compagney)
Marcus Ullmann: Die schöne Müllerin
Das Sängerensemble ist der größte Schatz der Oper – um die Sänger zu sehen und zu hören, kommt das Publikum, und ohne sie können selbst die Meisterwerke ihre Wirkung nicht entfalten. Gerade in einem kleineren Theater hat man die großartie Chance, junge Sänger zu engagieren, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Wenn man sich bei der Auswahl genügend Mühe macht, kann man ein Ensemble von hervorragender Qualität zusammenstellen. Wir engagierten das Ensemble für unsere Eröffnungsproduktion „Don Giovanni“ und kamen damit bestens durch das gesamte Repertoire – nur in Einzelfällen mussten Gäste engagiert werden.
Die jungen Sänger hatten drei erfahrenere Kolleginnen und Kollegen an ihrer Seite, von denen sie viel lernten. So konnte das Publikum die Entwicklung aller Sänger durch die verschiedenen Rollen in den aufeinander folgenden Spielzeiten verfolgen und sich freuen, wenn der eine oder andere später an ein größeres Haus wechseln konnte. Die Auswahl der Stücke für den Spielplan erfolgte in sorgfältiger Erwägung, wie sie für unser Ensemble passen würden – es gab viele, viele Pläne, bevor einer dann endgültig umgesetzt wurde.
Ebenso wichtig ist aber auch, dass die Sänger ihre Qualitäten entwickeln und ihre Fähigkeiten entdecken. Liederabende geben ihnen die Gelegenheit, ganz auf sich und ihren Partner am Klavier gestellt, an ihrer Gesangstechnik und ihrem Stilgefühl zu feilen. Hier ist nicht die große Geste der Bühne gefragt, sondern die Feinarbeit. Schon das alleine dort neben dem Flügel Stehen ist etwas, das man lernen und mit dem man vertraut werden muss. Liederabende für das eigene Ensemble waren also ein zentraler Programmpunkt der Opernsparte.
Es begann mit drei Liederabenden in der ersten Spielzeit: Winfrid Mikus, Wilfried Staber und Mareile Lichdi. Das Publikum kannte das nicht und musste erst dafür gewonnen werden. Da die Messlatte gleich sehr hoch angesetzt wurde (Janáček, Mussorgsky, Moderne), kam das anspruchsvolle Publikum auf seine Rechnung. Da war etwas zu entdecken, was viele nicht kannten! Das Liedrepertoire ist dem Theaterpublikum leider nicht mehr so geläufig, es ist ein unentdeckter Kontinent, auf dem sich erstaunliche Entdeckungsreisen machen lassen. Dazu kam, dass die Liederabende nicht in irgendwelche Nebenräume abgeschoben wurden, sondern im Parkett des Theatersaals stattfanden. Beim ersten Liederabend kamen 70 Leute. Später waren es bis zu 350, und aus drei Liederabenden wurden bis zu acht. Das Publikum ist treu zu seinen Sängern und zu seinem Theater.
Die Begleitung am Flügel wurde immer als gleichwertige Partnerschaft verstanden. Da unser GMD Cornelius Meister selbst ein großartiger Pianist ist, ließ er es sich nicht nehmen, den einen oder anderen Liederabend selbst zu begleiten. Sebastian Geyers „Winterreise“ mit Cornelius Geyer war ein besonderer Höhepunkt der Liederabende. Aber auch Michael Klubertanz, Joana Mallwitz und vor allem Timothy Schwarz erwiesen sich als sensible Klavierpartner, die die Sänger zugleich bei der Einstudierung als Coach unterstützten. Manche Sänger wählten ganz unbekannte Lieder oder überraschten das Publikum mit der Musik ihrer Heimat. Am Ende war die Reihe der Liederabende ein fester Bestandteil des Opernprogramms.
Bei den Heidelberger Schlossfestspielen hingegen war es nicht das Sängerensemble des Theaters, sondern Gäste. Oft war es ein Wiedersehen mit früheren Ensemblemitgliedern, die in der Zwischenzeit eine internationale Karriere gemacht hatten, wie Ruth Ziesack und Ortrun Wenkel, oder die sonst mit der Stadt verbunden sind wie Eleonore Marguerre. Hinzu kamen besondere Programme, mit denen man die Festspielbesucher überraschen konnte.
BAROCKFEST “WINTER IN SCHWETZINGEN”
2006/07
Motezuma ital.
Antonio Vivaldi, ergänzt von Thomas Leininger
Michael Form – Dirigent , Martín Acosta – Regie, Humberto Spíndola – Bühne und Kostüme
_________________________________
Vortrag Prof. Dr. Eric Jayme: Vivaldis „Motezuma” vor deutschen Gerichten
Galanteries musicales – Heidelberger Philharmoniker, Michael Form
Cantar suonando – Rosa Dominguez, Michael Form und Ensemble
2007/08
L’Olimpiade (Die Olympiade) ital.
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent , Werner Pichler – Regie, Klaus Teepe – Bühne,
Frank Bloching – Kostüme
_________________________________
Vortrag Prof. Dr. Silke Leopold: Freundschaft, Liebe, Leichtathletik. Vivaldis „Die Olympiade“
Cembaloabend Benjamin Alard
Sportliches Barock – Lautten Compagney Berlin
Le Roi danse – Barocker Tanz
Barockoper im neuen Roman - 3 Lesungen:
Wolfgang Schlüter: Anmut und Gnade
Rainer Cordts: Leanders Passion
Margriet de Moor: Der Virtuose
2008/09
Tito Manlio ital.
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent, Hendrik Müller – Regie, Claudia Doderer – Bühne und Kostüme
_____________________________________________________
Vortrag Prof. Dr. Silke Leopold: Toll trieben es die alten Römer
Orgelkonzert Benjamin Alard, Paris
Quartett barock – Ensemble Entr’acte Basel
Händel & Haydn – Heidelberger Philharmoniker, Michael Form
Jean Japart: Meister des Fricassée – Les Flamboyants, Michael Form
Die Violin-Sonaten von Bach – Thierry Stöckel, Violine, Arnold Werner-Jensen, Cembalo
2009/10
Spartaco ital.
Giuseppe Porsile
Michael Form – Dirigent, Michael von zur Mühlen – Regie, Ben Baur – Bühne und Kostüme
_________________________________
Vortrag Prof. Dr. Silke Leopold: Die letzten Tage des Spartakus
Cembalokonzert Dirk Börner
Concerto veneziano – Annika Ritlewski, Sopran, Lautten Compagney Berlin
Preußische Empfindsamkeit – Ludger Rémy, Orgel und Hammerclavier
Oper ohne Worte: Neapolitanische Instrumentalmusik – Orchestre Atlante, Michael Form
Kostbarkeiten des deutschen Barock – Leonore von Zadow-Reichling, Henner Eppel und Arnold Werner-Jensen
2010/11
Bajazet ital.
Antonio Vivaldi
Michael Form – Dirigent, Daniel Pfluger – Regie, Flurin Madsen – Bühne, Janine Werthmann – Kostüme
_________________________________
Vortrag Prof. Dr. Silke Leopold: Der ganz normale Wahnsinn – Vivaldis Opernpasticcio „Bajazet“
Weihnachtskonzert: Cellosonaten von Vivaldi, Ricercata von D. Scarlatti. Daniel Fritzsche, Olga Zheltikova
Eine Nacht in Venedig: Venezianische Komponisten des Barock. Lautten Compagney, Wolfgang Katschner
Engel der Verzweiflung. Tanzabend von Joachim Schloemer
Karneval in Venedig: Virtuose Concerti von Antonio Vivaldi. Orchestre Atlante, Michael Form
Bach und Händel I: Sonaten und Suiten. Musica ad Rhenum, Jed Wentz
Bach und Händel II: Sonaten. Thierry Stöckel, Reimund Korupp, Arnold Werner-Jensen
Die Barockmusik hat sich seit ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert stürmisch aus den Zirkeln der Spezialisten und der Kennerkreise herausentwickelt und interessiert heute ein breites Publikum, das durchaus auch selbst schon Kennerschaft entwickelt hat. Dass die Musik des Barock uns heute wieder näher steht, ist ein Ausdruck des Endes des bürgerlichen Zeitalters mit seinem dynamischen Fortschrittsbewusstsein. Die Musik unserer Zeit hat sich von den Formen des 19. Jahrhunderts inzwischen so weit entfernt wie dieses vom Barockzeitalter entfernt war.
Der Wunsch, die Aufführung von Barockopern zu einem regelmäßigen Bestandteil des Heidelberger Opernrepertoires zu machen, traf sich mit der Anfrage der Schwetzinger Schlossverwaltung, ob das Heidelberger Theater nicht im Winter etwas im Rokokotheater veranstalten könne, da es sonst in dieser Zeit kaum bespielt würde. Doch wie sollte das Orchester eines Stadtteaters mit seinen modernen Instrumenten Barock spielen? Schließlich erwartet das Publikum heute einen Standard von historisch informiertem Spiel, hinter den man nicht zurückfallen darf. Und auch die Sänger von heute haben selten die Kenntnisse der barocken Verzierungskunst und Phrasierungsweisen, die aus einem Barockopernabend erst ein mitreißendes Gesamterlebnis machen.
Es war also durchaus eine Entscheidung mit Risiko, als wir den jungen Barockspezialisten Michael Form baten, unser Reiseleiter durch dieses Abenteuer zu sein. Michael Form hatte sich als Virtuose auf der Blockflöte international einen Namen gemacht und vor einiger Zeit begonnen, von der Leitung kleinerer Ensembles auch zum Dirigieren des Orchesters weiterzugehen. Er hatte Alte Musik und Barock nicht nur praktiziert, sondern auch theoretisch gründlich studiert. So konnte er Musiker und Sänger von Grund auf vorbereiten. Am Beginn der Probenphase stand immer ein Workshop mit einer Spezialistin für die Streicher des Orchesters, in der das historisch informierte Spielen trainiert wurde. Das Philharmonische Orchester schaffte Barockbögen an, später auch Natur-Hörner und Trompeten. Der Einstieg verlief nicht konfliktfrei, doch von Jahr zu Jahr waren die Fortschritte deutlich zu hören, bis das Orchester beinahe klang wie ein Spezialistenensemble.
Da die Musiker ja gleichzeitig das Standardrepertoire spielt und dafür nicht jeden Tag die Instrumente wechseln bzw. umstimmen kann, war rasch klar, dass wir Opern spielen würden, deren Originalstimmung mit der heutigen ungefähr übereinstimmte. Im barocken Venedig war die Stimmung 440 Hertz, deshalb lag die Wahl von Opern Antonio Vivaldis nahe, die noch zu entdecken waren. Besonders reizvoll erschien uns der kürzlich wiedergefundene „Motezuma“, der durch Carpentiers Roman „Concierto barroco“ berühmt war. Dass ein Drittel der Partitur fehlte, hielt uns nicht davon ab, das Werk komplett zu spielen: Der junge Komponist Thomas Leininger vervollständigte es auf so verblüffende wie befriedigende Weise im Stil Vivaldis. Dass das Regieteam aus Mexiko kam, machte die Aufführung zu einem Ereignis, das die Zuschauer lang nachwirkend verzauberte.
Es folgten von Antonio Vivaldi „L’olimpiade“ (Die Olympiade) mit ihrer wahnwitzigen Handlung bei den antiken Olympischen Spielen, „Tito Manlio“ mit einer Geschichte und mit Figuren, die später bei dem auch von Mozart vertonten „Titus“ wieder durchscheinen, und „Bajazet“, in dem der türkische Sultan für die westliche Kultur steht, die durch die barbarischen Tartaren gefährdet wird. Junge Regisseure sorgten dafür, dass diese Aufführungen immer unterschiedlich spannend gerieten. Besonders umstritten war Giuseppe Porsiles „Spartaco“, unser einziger Seitensprung von Vivaldi. Bei einem Thema wie Spartakus klafft unsere heutige Sichtweise von der des Barock natürlich besonders weit auseinander. Aber ein Abenteuer sollte er ja sein, unser Ausflug in eine fremde Epoche, die uns so seltsam vertraut vorkommt.